Das Thema Wasserstoff ist aktuell in aller Munde. Ist die Zeit der erneuerbaren Wasserstoffunternehmen nun gekommen?
Müller: Ja. Die nationale und die europäische Wasserstoffstrategien zeigen, dass die Bedeutung von grünem Wasserstoff für die Energiewende erkannt wird. Nun kommt es darauf an, in Deutschland jährlich 6 GW Windkraft, 12 GW Photovoltaik und 6 GW Elektrolyse zu bauen – dann schaffen wir die Energiewende bis 2050.
Wasserstoff begleitet ENERTRAG von Anfang an. Bereits in den neunziger Jahren haben wir die technischen Grundlagen für unser Verbundkraftwerk erarbeitet: durch die direkte Verbindung der Erzeugung aus Wind und Sonne mit Wärme- und Wasserstoffspeichern erreichen wir eine bedarfsgerechte Stromeinspeisung ins Netz. Wir arbeiten wie ein Kraftwerk, welches neben Strom auch Wärme und Treibstoff liefert. So vermeiden wir Kohlendioxid in allen Bereichen: Strom, Verkehr, Wärme und Industrie. Das Verbundkraftwerk Uckermark ist hier nur das erste seiner Art und wird immer mehr ausgebaut.
Wie effizient ist der Einsatz von Wasserstoff?
Müller: Irrtümlicherweise wird Wasserstoff häufig als ineffizienter beschrieben. Der Irrtum beruht auf der Betrachtung losgelöster Wirkungsgradketten statt der Systembetrachtung. Es ist dasselbe, als würde man das Gießen von Gemüsebeeten bei Trockenheit unterlassen, nur weil es gegenüber Regen natürlich wesentlich ineffizienter ist. Aber dann hätten wir kein Gemüse. Über das Jahr gesehen lohnt sich der Aufwand offenbar, das Gemüse zu gießen.
Die Effizienz eines erneuerbaren Energiesystems mit Wasserstoff als Speicher ist zudem extrem hoch. Während unser fossiles Energiesystem bis zu 80 Prozent Verluste aufweist, erreichen wir mit Wasserstoff bis zu 80 Prozent Effizienz und unter 20 Prozent Verluste. Unser altes Energiesystem verliert bis zu 80 Prozent des Energieeinsatzes durch Schornsteine, Kühltürme, Auspuffe und schlecht gedämmten Wände. In einem erneuerbaren Energiesystem gibt es weder Schornsteine noch Kühltürme oder Auspuffe und eine vernünftige Dämmung ist selbstverständlich.
Allerdings ist ein rein elektrisches stabiles Energiesystem unmöglich, weil Strom wie Licht nicht speicherbar ist. Genauer gesagt: es ist unmöglich, ausreichend große Strommengen über längere Zeiträume auch nur annähernd bezahlbar zu speichern.
Wasserstoff aber ist hierfür hervorragend geeignet. Zunächst nimmt die Wasserstofferzeugung die Fluktuation aus dem System und ermöglicht eine bedarfsgerechte Netzeinspeisung erneuerbarer Energie. Dann sind Wasserstoffspeicher mit großem Abstand die billigsten verfügbaren Energiespeicher. Und drittens kann Wasserstoff in Brennstoffzellen mit 60 Prozent Wirkungsgrad kombiniert mit Abwärmenutzung hocheffizient energetisch genutzt werden. Da aber der größte Teil der erzeugten erneuerbarer Energie fast verlustfrei direkt als Strom genutzt wird, fallen die höheren Verluste über den Wasserstoffpfad in der Gesamtbilanz kaum ins Gewicht. Dabei ist zu beachten, dass ohne Wasserstofferzeugung bis zu 30 Prozent der erneuerbaren Energie ungenutzt blieben, weil der Erzeugung kein Strombedarf gegenüber stünde.
So ist Wasserstoff schlicht notwendig: Nur mit ihm können alle Energiesektoren dekarbonisiert werden. Langfristig werden 70 Prozent des Wasserstoffs bzw. die daraus erzeugte Kraftstoffe wie Ammoniak oder synthetisches Kerosin besonders in der Industrie, dem Langstrecken- und Schwerlastverkehr, Schiffen und im Flugverkehr verbraucht werden. Die restlichen 30 Prozent sind in einem rein erneuerbaren Energiesystem für die Überbrückung von Energieengpässen nötig. Auch bei der Rückverstromung sollte Wasserstoff so effizient wie möglich genutzt werden, also nicht in Gaskraftwerken, sondern durch Kraft-Wärme-Kopplung mit Brennstoffzellen.
Grüner Wasserstoff ist heute noch sehr teuer. Wie schnell kann er deutlich günstiger werden?
Müller: Diese Behauptung führt in die Irre. Was bedeutet denn teuer? Auch teuer ist relativ. Wir sind z.B. in der Lage, Wasserstoff so günstig herzustellen, dass man damit günstiger Auto fahren kann als mit Benzin. Das liegt natürlich daran, dass der Wirkungsgrad eines Brennstoffzellenfahrzeuges viel höher ist als der eines Verbrenners und dass weniger Steuern anfallen.
Wasserstoff wird aus günstiger erneuerbarer Energie hergestellt. Die Kosten der Elektrolyse sinken mit zunehmender Massenproduktion. Und die Transportkosten von Energie durch Gasnetze sind bis zu zehnfach günstiger als durch Stromnetze, zumal wir bereits über ein starkes Gasnetz verfügen. Das bestehende Gasnetz kann gut für den Transport von grünem Wasserstoff genutzt werden. Wir speisen schon seit 2014 aus unserem Verbundkraftwerk in das Gasnetz ein. Allmählich wird der Wasserstoffanteil dann bis 100 Prozent steigen. Dafür muss schnell ein rechtliches Umfeld geschaffen werden.
Was grünen Wasserstoff im Moment unnötig teuer macht, sind nur die absolut unzeitgemäßen Steuern, Abgaben und Umlagen auf erneuerbaren Strom. Es ist absurd, dass wir gegenüber Erdöl und Erdgas auf unseren CO2-freien Strom bis zu zehnfach höhere Belastungen zahlen müssen!
Ziel muss ein einheitliches Preissystem auf Basis des CO2-Gehalts sein. Als allererstes muss dafür die EEG-Abgabe für die Elektrolyse mit erneuerbaren Strom wieder abgeschafft werden. Diese Umlage ist wie eine angezogene Handbremse – man kommt nicht vom Fleck.
Der Entwurf der Nationalen Wasserstoffstrategie aus dem Bundeswirtschaftsministerium schließt blauen Wasserstoff als Option ausdrücklich mit ein. Auch die Industrie meint, ganz ohne fossilen Wasserstoff funktioniert es nicht. Wie stehen Sie dazu?
Müller: Investitionen in fossile Technologien müssen unbedingt vermieden werden. Das ist rausgeworfenes Geld. Die Herstellung von Wasserstoff aus Erdgas würde aber genau dazu führen. Es ist ein Irrglaube, dass es uns gelingen wird, den dabei anfallenden Kohlenstoff so zu verwahren, dass er nie in die Atmosphäre gelangt. Bei der Kernenergie sind wir auch dem Irrtum aufgesessen, alles im Griff zu haben. Nein – Technik kann versagen. Daher muss Technik immer so gebaut werden, dass sie auch versagen darf. Ein CO2-Lager aber darf nicht versagen…
Wir können aus Windkraft und Solarstrom leicht soviel Wasserstoff gewinnen, dass eine kontinuierliche Versorgung der Industrie mit Wasserstoff kein Problem ist. Für den Ausgleich der Schwankungen können wir die Kavernenspeicher nutzen. Wir brauchen nur einfach genug Windkraft und Solarenergie. Wer hier weiter auf die Bremse tritt, riskiert den Standort Deutschland. Die Industrie hat das inzwischen begriffen.
Wo sehen Sie die besten Einsatzmöglichkeiten für grünen Wasserstoff?
Müller: Wasserstoff muss dort eingesetzt werden, wo ein großer Hebel besteht und er das meiste Kohlendioxid vermeidet. Demnach steht an erster Stelle im Straßenverkehr, denn dort entsteht pro Energieeinsatz heute das meiste CO2. An zweiter Stelle folgt der Wärmebereich mit Wärmepumpen-Brennstoffzellen-Kombinationen, welche bei ausreichend Stromangebot aus dem Stromnetz Energie beziehen und in Engpasszeiten Wasserstoff aus dem Gasnetz. Durch die Wärmepumpe erhält man auch hier wie im Straßenverkehr einen CO2-Hebel von etwa 1:3.
Erst an dritter Stelle kommen industrielle Anwendungen, wo naturgemäß meist keine Hebelwirkung besteht, weil eine Kilowattstunde Wasserstoff eben nur eine Kilowattstunde fossile Energie ersetzt. Interessant ist dagegen die Ammoniak-Synthese, welche zügig CO2-frei werden muss. Damit stünde nicht nur umweltfreundlicher Dünger zur Verfügung, sondern Ammoniak kann Diesel im Schwerlast- und Schiffsverkehr verdrängen.
Welche Projekte treibt ENERTRAG bereits heute in diesen Bereichen voran?
Müller: Wir erzeugen bereits Windgas, also Wasserstoff aus Windstrom und speisen ihn in das Gasnetz ein oder verkaufen ihn per LKW an Tankstellen und Brennstoffzellenbetreiber. Die Gasnetzeinspeisung wollen wir zügig ausbauen. Wir arbeiten aber auch an Projekten für Wasserstoffzüge, Zuckerfabriken, Busse oder Ammoniak für Schiffe.
Wie sieht unser Energiesystem im Jahr 2050 aus?
Müller: Im Jahr 2050 will unser Land vollkommen erneuerbar sein. Das bedeutet, wir gewinnen unsere Energie aus Solarenergie und Windkraft, also aus Strom. Verbundkraftwerke und Wasserstoff werden die Systemstabilität garantieren. So werden wir erneuerbarer Strom fahrplantreu einspeisen und die erzeugte Energie vollständig effizient nutzen. Gleichzeitig werden Kraftstoffe für alle Sektoren zur Verfügung stehen. Erneuerbare Energieerzeuger werden ein Lieferant von Strom, Wärme, Gas und anderen speicherbaren Energieträgern.
Ob wir dieses Ziel 2050 oder früher erreichen, hängt nur von politischem Willen ab.
-----------
Sehr geehrter Herr Müller, vielen Dank für das Gespräch.
Video zum Enertrag Kombikraftwerk:
Das wird Sie auch interessieren:
- Pressemitteilung, Expertenwissen20.10.2020Energiewendeminister Jan Philipp Albrecht: "Wir wollen das Energiewendeland Nummer eins bleiben. Dafür spielen die Produktion, Erforschung und Vermarktung von ...