Trotz der gesunkenen Importe aus Russland waren auch im Winter 2023/24 weder die Versorgung gefährdet noch die Speicher unzureichend befüllt. Eine Gasmangellage, mit der der beschleunigte Ausbau von Flüssigerdgas (LNG)-Infrastruktur seit dem Sommer 2022 gerechtfertigt wird, trat zu keinem Zeitpunkt ein. Angesichts zu erwartender rückläufiger Erdgasverbräuche in Deutschland und der Stabilisierung der Versorgung scheint es angebracht, die im LNG-Beschleunigungsgesetz (LNGG) angedachten Vorhabenstandorte auf den Prüfstand zu stellen. Dabei sollte die Bundesregierung von der Entwicklung landseitiger LNG-Terminals absehen und die schwimmenden Regasifizierungsanlagen (Floating Storage and Regasification Units - FSRU) neu bewerten. Aus Klimaschutzperspektive bleiben weiterhin Energieeffizienz und proaktives Gassparen wichtig.

In der Folge des Angriffskrieges auf die Ukraine ging die europäische Abhängigkeit von russischem Erdgas deutlich zurück. Zuvor bezog die EU substanzielle Mengen über den Landweg, vor allem über den Ukraine-Transit, die Jamal-Europa-Erdgasleitung und die Ostsee-Pipeline Nord Stream. In der ersten Hälfte des Vorkriegsjahres 2021 flossen circa 30 Milliarden Kubikmeter (m3) über Nord Stream in die EU sowie je etwa 20 Milliarden m3 über den Ukraine-Transit und Polen. Zusätzlich wurden kleinere Mengen über die Türkei (circa 5,5 Milliarden m3) und als LNG (circa 7,5 Milliarden m3) aus Russland importiert. Insgesamt beliefen sich die europäischen Importe russischen Erdgases im ersten Halbjahr 2021 auf über 80 Milliarden m3. Nachdem zunächst die Lieferungen über Polen im zweiten Quartal 2022 eingestellt wurden, folgten im dritten Quartal 2022 auch die Importe via Nord Stream. In der zweiten Hälfte des Jahres 2023 flossen noch circa 7,5 Milliarden m3 russisches Erdgas über den Ukraine-Transit, 8,5 Milliarden m3 über die Türkei und acht Milliarden m3 russisches LNG in die EU. Es ist unwahrscheinlich, dass die russischen Gasexporte nach Europa auf absehbare Zeit steigen, auch wenn russische Flüssigerdgasexporte weiterhin Bestand haben dürften. Dagegen bezieht Deutschland kein russisches Erdgas mehr durch Pipelines.

Das DIW Berlin analysiert und modelliert seit vielen Jahren die Entwicklung auf den Erdgasmärkten und hat seit Beginn des Ukraine-Kriegs regelmäßig dazu berichtet. Hier wird die Analyse aktualisiert und um eine Bewertung der Infrastrukturausbauplanung erweitert, insbesondere der LNG-Terminals am Standort Mukran auf Rügen.

 

Marktsituation in Deutschland und Europa normalisiert

Die Kombination aus weiterhin rückläufiger Gasnachfrage, diversifiziertem Angebot und umfangreichen Speicherkapazitäten sorgte dafür, dass sich die Gasversorgung in Deutschland auch im Winter 2023/24 entspannt hat. Der Erdgasverbrauch in Deutschland ist 2023 gegenüber dem Vorjahr weiter leicht gesunken und liegt erheblich unter dem Durchschnitt der Jahre 2018 bis 2021 (Abbildung 1). Damit setzt sich ein Trend fort, der auch langfristig für einen strukturellen Nachfragerückgang spricht.

Ein deutlicher Indikator für die Entspannung auf den Märkten sind die sinkenden Erdgaspreise. Sie sind in Deutschland und europaweit seit Ende 2022 stark rückläufig und haben sich inzwischen in der Größenordnung der Vorkriegsphase eingependelt. Auch die Forward-Preise, also die heute für eine Belieferung in Zukunft (zum Beispiel im Februar 2025) zu zahlenden Preise, liegen in diesem Bereich (Abbildung 2).

Zugleich bestand für den Winter 2023/24 zu keinem Zeitpunkt die Gefahr einer Gasknappheit. Die Ende Januar vorherrschenden Speichervolumina von knapp 190 Terawattstunden (TWh) in Deutschland (etwa 75 Prozent der Kapazität), beziehungsweise rund 800 TWh in der EU (über 70 Prozent der Kapazität), lagen weit entfernt von einer Mangellage. Die Füllstände reichen auch aus, um in den möglicherweise sehr kalten Monaten Februar und März 2024 sowohl Deutschland als auch Osteuropa ausreichend zu versorgen. Daher ist zu erwarten, dass die Kapazitäten zum Winterbeginn 2024/25 wieder komplett aufgefüllt werden können. Der Verband der Betreiber von Gas- und Wasserstoffspeichern INES bestätigt in einem Update vom 16. Januar 2024 ebenfalls, dass eine Gasmangellage auch bei extremer Kälte nicht absehbar ist und die Gasspeicher bis zum nächsten Winter wieder vollständig gefüllt werden können.

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den (bestehenden) Importkapazitäten für LNG. Trotz konstant hoher Speicherfüllstände über das Jahr 2023 hinweg wurden nur etwa zwei Drittel der Ende Januar 2024 bestehenden zentraleuropäischen Kapazitäten in Anspruch genommen, in Deutschland betrug die Auslastung etwa 50 Prozent (siehe Abbildung 3). Im Falle einer kältebedingt höheren Nachfrage hätte also sowohl mehr Erdgas aus den Speichern genutzt werden oder über bereits bestehende Terminals bezogen werden können.

LNG-Terminal auf Rügen für Versorgungssicherheit nicht notwendig

Gegen Ende des Winters 2023/24 zeichnet sich keine Gasknappheit ab, auch die Speicher konnten ohne wesentlichen Ausbau der Importkapazitäten für Flüssigerdgas gefüllt werden (analog zum vorangegangenen Jahr).  Es sollte daher überdacht werden, ob ein zusätzliches LNG-Terminal am Standort Mukran auf Rügen notwendig ist. Vor diesem Winter war kontrovers über das Thema diskutiert worden, unter anderem in der Begründung der Bundesregierung zur Aufnahme des Standortes im Rahmen des LNG-Beschleunigungsgesetzes. Die Debatte hat sich aber im Nachhinein als unnötig herausgestellt: Obwohl das neue LNG-Terminal auf Rügen im Winter 2023/24 nicht zur Verfügung stand, gab es in Ostdeutschland keine Versorgungslücken. Dies liegt vor allem daran, dass keine strukturellen Netzengpässe innerhalb Deutschlands bestehen, die ein Terminal auf Rügen rechtfertigen würden. Etwaige Netzengpässe innerhalb Deutschlands können kostengünstig und zeitnah durch Flussumkehr auf ehemals in Ost-West-Richtung betriebenen Verbindungsleitungen beseitigt werden. Der kostenintensive Aufbau fossiler Erdgasimportstrukturen auf Rügen erscheint daher weder „unbedingt notwendig“ noch kosteneffizient. Der Standort Mukran wäre, selbst wenn er bereits zur Verfügung gestanden hätte, energiewirtschaftlich nicht zur Vermeidung einer Gasmangellage im Winter 2023/24 erforderlich gewesen.

 

Diskussion weiterer LNG-Ausbaupläne: Es droht keine Gasmangellage

Sowohl im vergangenen als auch im aktuellen Jahr verzeichnet Deutschland eine stabile Gasversorgung, die Versorgungssicherheit ist gewährleistet. Auch die Gasversorgung in den europäischen Nachbarländern ist auf einem unkritischen Niveau. Ungeachtet dessen gilt immer noch die am 23. Juni 2022 ausgerufene Alarmstufe des Notfallplans Gas in Deutschland. Dieser Indikator dient zum einen als Aufforderung an Industrie und Bevölkerung, den Gasverbrauch nach Möglichkeit zu reduzieren und sparsam mit dem verfügbaren Angebot umzugehen. Gleichzeitig bildet eine drohende Gasmangellage auch die zentrale Grundlage der Begründung des LNG-Beschleunigungsgesetzes. Dabei werden durch das Gesetz reguläre Umweltprüfungen außer Kraft gesetzt und Netzausbaumaßnahmen priorisiert, die unter Umständen nicht den üblichen energie-, klima- und umweltpolitischen Ansprüchen genügen. Trotz der insgesamt auskömmlichen Situation mit lediglich drei aktiven Terminals im Winter 2023/24 sind im Kontext des LNG-Beschleunigungsgesetzes weitere sieben Vorhabenstandorte ausgewiesen.

Auf Basis der geringen Auslastung bestehender Terminals sowie der allgemeinen Versorgungssituation ist es erforderlich, den eingeschlagenen Kurs politisch zu korrigieren, um die Ausbauplanung kohärent an aktuelle Gegebenheiten anzupassen. Ein konsequentes Umsteuern trägt wesentlich dazu bei, sozial und umwelttechnisch negative Auswirkungen zu verringern und Fehlinvestitionen sowie fossile Pfadabhängigkeiten zu vermeiden. Ein ähnlicher Prozess ist kürzlich von Seiten des weltweit größten Exporteurs von Flüssigerdgas, den USA, angestoßen worden. Dabei verkündete die Biden-Administration, vorübergehend Entscheidungen über die Ausfuhr von Flüssigerdgas auszusetzen, um dem Energieministerium die Möglichkeit zu geben, zugrunde liegende Analysen neu zu bewerten. Dieser Schritt wird unter anderem durch ein neues Verständnis des langfristigen Marktbedarfs nach LNG und der Umweltauswirkungen von Erdgas gerechtfertigt.

 

Fazit: Überdimensionierter LNG-Infrastrukturausbau ist nicht erforderlich

Zwei Jahre nach Beginn des Ukraine-Kriegs sind die russischen pipelinegebundenen Erdgasexporte nach Deutschland eingestellt und nach Europa erheblich reduziert worden. Die Lage auf den deutschen und europäischen Gasmärkten hat sich bereits 2023 entspannt. Der Trend setzte sich auch im Winter 2023/24 fort. Dies zeigte sich insbesondere an den Gaspreisen, die auf Vorkriegsniveau zurückgegangen sind. Nachdem bereits das Jahr 2023 zu einer Normalisierung der Gasmärkte geführt hatte, ist es nunmehr an der Zeit, die Ausbaumaßnahmen für fossile Erdgasinfrastruktur auf den Prüfstand zu stellen. Der überdimensionierte LNG-Infrastrukturausbau ist nicht erforderlich, um eine potenzielle Gasmangellage zu vermeiden und sollte daher nicht weiterverfolgt werden.

Quelle: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e.V.

 


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