Windräder in der Nachbarschaft einer denkmalgeschützten Burg? Da ist Kritik vorprogrammiert. Also schnappen sich Projektentwickler und politische Entscheider kurzerhand ihre Tablets und gehen direkt an den Ort des Geschehens. Mithilfe der integrierten Kamera sehen sie auf ihren Displays die reale Landschaft. Dort hinein projiziert die App ar4wind Bilder der geplanten Windenergieanlage (WEA), und zwar genau so, wie man sie vom jeweiligen Standort aus nach ihrer Errichtung sehen würde. „Aufgrund der Eindrücke durch diese Augmented Reality­Anwendung hat man einige Masten aus der Planung herausgenommen, sodass das Landschaftsbild samt dem historischen Bau hier nicht mehr beeinträch-tigt wird“, sagt Bettina Bönisch, Mediatorin und Referentin für ar4wind bei der Fachagentur Windenergie an Land.

Augmented Reality (AR) wird zu einem wichtigen Werkzeug beim Ausbau von Windenergieanlagen (WEA). Die Technologie vermittelt wirklichkeitsge-treue Eindrücke davon, wie geplante WEA sich in die Umgebung einfügen. Das ist nicht nur für die Projektentwickler interessant. Solche Eindrücke können auch im Rahmen von Bürgerbeteiligungen mehr Akzeptanz schaf-fen, indem das Unbekannte erfahrbar wird – und an Schrecken verliert.

Nichts für Laien

„Die große Herausforderung bei ar4wind besteht darin, dass wir dieses Werkzeug in der freien Landschaft anwenden“, erläutert Simon Burkard, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter der HTW Berlin mit dem Projekt betraut ist. In einem geschlossenen Raum lässt sich die eigene Position exakt ermitteln. Dies ist die Voraussetzung dafür, um in eine real aufgenommene Umgebung zusätzliche Informationen wie virtuelle 3D­Modelle korrekt einzublenden. Draußen funktioniert das prinzipiell zwar auch, doch die in Smartphones und Tablets integrierten Lokalisierungssensoren sind für eine Anwendung wie ar4wind zu ungenau. „Wir kombinieren deshalb verschiedene Methoden, um die Geräte zu kalibrieren“, so Burkard. „Direkt vor Ort muss beim Einsatz noch einiges manuell einge­ stellt werden.“ Dabei sind Kenntnisse zur Bedienung der App vonnöten. Schon vor der Exkursion ins Feld müssen Daten, wie die genauen Stand­ orte der geplanten WEA, die Höhe der Masten sowie der Durchmesser der Rotoren, in die App eingegeben werden. 

AR: Neue Welten entdecken

„Erweiterte Realität“ (engl. Augmented Reality, kurz AR) bedeutet, dass man Daten und Abbildungen aus der realen Welt durch virtuelle Ele-mente um zusätzliche Inhalte ergänzt. Das können Texte, Videos und Spiele sein. AR funktioniert über das Erkennen von Bildern oder Mustern über die Kamera einer Datenbrille, eines Smartphones oder Tablets. Identifiziert die Software ein Bild, das mit dem entsprechenden Format verknüpft ist, reagiert sie mit dem entsprechenden Befehl, ein Video ab-zuspielen oder Texte einzublenden.

Für das Forschungsprojekt ar4wind steht Ende Juni 2023 der Abschluss-bericht an, danach wird die App vermarktet. Bislang haben vor allem Projektentwickler den Nutzen der App im Praxiseinsatz getestet. „Wenn etwa 20 Leute eine geführte Tour ins Feld machen, nehmen sie mindes-tens vier bis fünf Geräte mit, die von einer kundigen Person bedient werden“, berichtet Bönisch. „Das Feedback war sehr positiv.“ Für Einsätze in größeren Runden sei die Anwendung zunächst nicht vorgesehen.
„Wenn Laien sich mit der Bedienung und Kalibrierung herumschlagen, kann das zu Frust führen und der eigentliche Nutzen tritt in den Hinter-grund.“ Würde ein freier Zugang zur App ermöglicht, müssten zudem Fragen nach Rechten an Bildern und Daten geklärt werden. Ein weiterer Punkt: „So wie man selbst mit einer guten Kamera schlechte Bilder machen kann, kann man auch mit dieser App Unfug treiben.“ Das heißt: Wird ar4wind nicht korrekt bedient, lassen sich damit auch Eindrücke erstellen, die die Ergebnisse von Planungen verzerren – im schlimmsten Fall entstehen Fake News. 

Das setzt dem Einsatz in Prozessen der Bürgerbeteiligung vorerst zwar Grenzen. Doch es kann hilfreich sein, AR­basierte, bei einer Exkursion im Feld gemachte Videoaufnahmen in entsprechenden Runden zu zeigen. „Um die Akzeptanz geplanter Windräder durch AR zu erhöhen, ist ent­ scheidend, wie diese Präsentationen und Diskussionen vor Ort moderiert werden“, betont Bönisch.

Einige Unternehmen wie BayWa r.e. und EnBW setzen ebenfalls auf AR-Einsätze in diesem Bereich und entwickeln ähnliche Anwendungen wie ar4wind. Ein Tool der Osnabrücker Landschaftsplaner LandPlan OS ermöglicht es, die AR­Darstellung vor Ort live an anderswo zugeschaltete Personen zu übertragen. Diese wiederum können sich direkt äußern und Einfluss auf die Art und Position der Visualisierung nehmen.

Wartungen vereinfachen

Neben der Planung ist die effizientere Wartung von WEA ein zweiter bedeutender Anwendungsbereich für AR. Mithilfe dieser Technologie lassen sich Personalaufwand, Instandhaltungskosten und Ausfallzeiten reduzieren. Das Werkzeug kann künftig Servicetechniker unterstützen, die den Zustand einzelner Bauteile mittels Sichtprüfung einschätzen und dokumentieren.

Das Bremer Institut für Produktion und Logistik (BIBA) hat schon vor Jahren mit dem AR Maintenance System eine Anwendung erprobt, die der Navigation, Arbeitsanweisung und Dokumentation dient. „Wir haben Lösungen für Indoor­Navigation, Visualisierung, das Erfassen und Liefern von Instandhaltungsanweisungen und ­tätigkeiten, die Erkennung von Objektmarkern und für das Management großer Datenmengen erarbei-tet“, berichtet Moritz Quandt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am BIBA. „Bei unserem aktuellen Projekt compARe nutzen wir auch Künstliche Intelligenz.“ KI­basierte Bildverarbeitungsverfahren sollen Defekte an Bauteilen, die über lange Zeiträume entstehen, sowohl erkennen als auch klassifizieren und auswerten.

Fliegt man zum Beispiel mit einer Drohne die Rotoren eines Windrads ab und entdeckt via Kamera potenzielle Defekte, können einige davon sich später als harmlos oder einfach als Schmutz entpuppen. Es liegt bei den Servicetechnikern, einen Schaden zu begutachten und zu entscheiden, ob eine Reparatur erfolgen muss oder nicht. Füttern sie die KI mit diesem Input, lernt diese daraus und unterstützt bei der Entscheidungsfindung. „Der Einsatz dieser rechenintensiven Bildverarbeitungsverfahren auf mobilen Endgeräten stellt eine Herausforderung dar“, erläutert Quandt. Hinzu kommen Fragen zur Hardware: Welche Geräte sind bei welchen Einsätzen am besten geeignet? Eine halbtransparente 3D­Datenbrille stellt visuell Informationen zum Instandhaltungsprozess bereit und über­ nimmt wesentliche Dokumentationsaufgaben. Die Hände der Service-techniker bleiben dabei frei. Um selbst Daten einzugeben, ist hingegen ein Smartphone oder Tablet das bessere Gerät. „Wichtig ist es, bei der Hardware offenzubleiben“, betont Quandt. „Diese muss in der Praxis unterschiedlichen Anforderungen des Arbeitsschutzes entsprechen.“ Auch Stabilität sei gefordert, eine teure Datenbrille etwa sollte nicht beim ersten Sturz kaputtgehen.

Im Frühjahr 2023 wird compARe bei gutem Wetter getestet und das Feedback der Servicetechniker eingeholt. Ende des Jahres, so das Ziel, steht ein funktionierendes Gesamtsystem zur Verfügung. So wird AR zu einem wichtigen Werkzeug beim Ausbau der Windkraft.

Dieser Beitrag erschien erstmalig im BWE BetreiberBrief 2/2023, Autorenschaft: Ahnen & Enkel, Agentur für Kommunikation (im Auftrag des BWE)


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