Zur Einordnung des zweiten Stresstests/zweite Sonderanalyse Winter 2022/2023:
Die vier Übertragungsnetzbetreiber haben im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz von Mitte Juli bis Anfang September 2022 in der Sonderanalyse die Sicherheit des Stromnetzes für diesen Winter unter verschärften äußeren Bedingungen untersucht. Anlass dafür war, dass aufgrund der Dürre im Sommer, des Niedrigwassers in den Flüssen, des aktuellen Ausfalls rund der Hälfte der französischen Atomkraftwerke und der seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine insgesamt angespannten Lage auf den Energiemärkten eine Reihe von Unsicherheitsfaktoren bestehen, die unter bestimmten Umständen zu einer Kumulation von Risiken führen.
Die Analyse umfasst drei kritische Szenarien (kritisches Szenario +, sehr kritisches Szenario ++ und Extremszenario +++), die deutlich von den Referenzszenarien aus den gesetzlich vorgeschriebenen Analysen zur Stromversorgungssicherheit von Ende April 2022 abweichen. Auch im Vergleich zum ersten Stresstest vom Mai 2022 wurden die Annahmen zur Kraftwerksverfügbarkeit und zu Brennstoffpreisen noch einmal deutlich verschärft und je nach Szenario hochskaliert. Damit liegen der Gesamtbewertung für die Stromversorgungssituation insgesamt fünf Szenarien zugrunde – von Basisszenario der gesetzlich vorgeschriebenen Bedarfsanalyse bis hin zum Extremszenario in diesem zweiten Stresstest.
Für die drei Szenarien des zweiten Stresstests wurden in Stufen mögliche Auswirkungen einer unterschiedlich kritischen Lage auf den Energiemärkten auf den Stromsektor in Deutschland und Europa untersucht. In der neuen Berechnung wurden u.a. folgende Annahmen zugrunde gelegt:
- Ein großer Teil der französischen Atomkraftwerke kehrt nicht bis zum Winter an den Markt zurück. Im Extremszenario (+++) steht nur die Leistung von knapp zwei Drittel der französischen Atomkraftwerke zur Verfügung.
- Nur ein Teil der möglichen Kraftwerke kehrt nach dem Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz an den Markt zurück - je nach Szenario in unterschiedlichem Ausmaß.
- Das Niedrigwasser in den Flüssen schränkt Steinkohlelieferungen weiter ein. Die Steinkohlekraftwerke können also auch bei Verbrauchsspitzen deutlich weniger Strom produzieren, im Extremszenario am wenigsten.
- Ein Viertel (+) bis die Hälfte (+++) der Kraftwerksleistung der Netzreserve ist nicht betriebsbereit.
- Im kritischen Szenario ist ein Viertel der Gaskraftwerke in Süddeutschland nicht verfügbar, im Extremszenario sogar die Hälfte.
- Die Stromnachfrage von Heizlüftern erhöht die Verbrauchsspitzen im Gigawatt-Bereich.
- Der Gaspreis als Eingangsgröße der Berechnungen wurde in allen drei Szenarien einheitlich auf 300 EUR/MWh erhöht.
Wesentliche Ergebnisse des zweiten Stresstests sind:
- Eine stundenweise krisenhafte Situation im Stromsystem im Winter 22/23 ist zwar sehr unwahrscheinlich, kann aktuell aber nicht vollständig ausgeschlossen werden. Damit es aber im kommenden Winter zu keinerlei Lastunterdeckungen oder Stromausfällen aufgrund von Netz-Stresssituationen kommt, sind zusätzliche Maßnahmen zur Stärkung der Netzsicherheit nötig.
- Konkret zeigen die Ergebnisse der Berechnungen, dass in einigen Regionen des europäischen Strommarktes in einigen Szenarien die Nachfrage ohne zusätzliche Maßnahmen nicht vollständig gedeckt werden kann. Im sehr kritischen Szenario (++) und dem Extremszenario (+++) treten solche Situationen für sehr kurze Zeiträume, das heißt einige wenige Stunden im Jahr, auch in Deutschland auf.
- Im besonderen Fokus stand bei dem Stresstest vor allem die Frage, ob und in welchem Ausmaß es zu Engpässen im Stromnetz kommt. Ergebnis ist hier, dass es – bedingt durch den verzögerten Netzausbau und fehlende Erzeugungskapazitäten im Süden – in allen drei Szenarien Netzengpässe geben kann. Zur Behebung dieser Netzengpässe sind Kraftwerke aus dem Ausland (Redispatchkraftwerke) nötig, teilweise im deutlich größeren Umfang als bisher errechnet und eingeplant. Da die Versorgungslage in ganz Europa unter anderem in Folge von Dürre, Niedrigwasser und den Problemen bei französischen Atomkraftwerken angespannt ist, ist äußerst unsicher, ob diese Kraftwerksleistung bei den europäischen Partnern tatsächlich zur Verfügung stehen kann.
- Aus Gründen der Vorsorge braucht es ein Bündel von Maßnahmen, um Netzengpässe zu vermeiden. Dazu werden eine Reihe von Lösungsansätzen zur Entschärfung von kritischen Situationen empfohlen, die kombiniert werden sollten – eine Maßnahme allein reicht nicht. Wichtige Beiträge zur Netzsicherheit sind eine höhere Auslastung der bestehenden Netze durch eine Beschleunigung des geplanten witterungsabhängigen Freileitungsbetriebs, eine bessere Nutzung verschiedener Kraftwerke und Kraftwerksreserven sowie vertragliches Lastmanagement. Diese Maßnahmen sollten zwingend und dringend umgesetzt werden. Zum Potenzial von Lastmanagement hat die Bundesnetzagentur einen Bericht veröffentlicht, diesen finden Sie unter https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Downloads/E/endbericht-auswertung-des-lastmanagement-monitorings.html.
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Für das sehr kritische Szenario ++ wurde in einer zusätzlichen Berechnung der mögliche Effekt einer Verfügbarkeit der drei Atomkraftwerke Emsland, Isar und Neckarwestheim im Stromnetz untersucht. Die Ergebnisse zeigen:
- Wenn man die drei Atomkraftwerke verfügbar hält, kann dies in Stresssituationen im Stromnetz nur einen begrenzten Beitrag leisten.
- Zur Stabilisierung des Stromnetzes würden die drei AKW in einem sehr kritischen Szenario den Bedarf an Redispatchkraftwerken im Ausland nicht um die Nennleistung der AKW senken, sondern nur um 0,5 GW. Es bleibt auch dann ein Redispatchbedarf im Ausland von 4,6 GW (im Szenario ++ besteht ohne AKW ein Redispatchbedarf im Ausland von 5,1 GW). Redispatchkraftwerke sind Kraftwerke, die dem deutschen Markt kurzfristig Strom zum Ausgleich von Netzengpässen zur Verfügung stellen können.
- Es würde zudem – gemessen am Gesamtgasverbrauch – nur minimal Gas eingespart. So sinkt die Stromerzeugung mit Gaskraftwerken um 0,9 TWh. Bei einem Wirkungsgrad von 50% entspricht dies einer Gaseinsparung von 1,8 TWh und damit rund 2 Promille des gesamten deutschen Gasverbrauchs.
- Durch einen Streckbetrieb könnte 0,5 TWh mehr Strom aus erneuerbaren Energien eingespeist werden, dies entspricht rund 2 Promille von 286,7 TWh des eingespeisten Stroms aus erneuerbaren Energien.
- Insgesamt besitzt Atomenergie im Vergleich zu den anderen dringenden Maßnahmen eine untergeordnete Rolle, um in kritischen Situationen die Netzsicherheit zu gewährleisten. Es bleiben auch bei einer Nutzung der drei verbleibenden Atomkraftwerke deutliche Eingriffe in den Kraftwerkspark nötig, um die Netzsicherheit zu gewährleisten.
Weiteres Vorgehen:
Die im Stresstest empfohlen Maßnahmen sind zum Teil bereits umgesetzt oder in Umsetzung, z.B. die Nutzung von Kraftwerksreserven und die Marktrückkehr von Kohlekraftwerken. Weitere Maßnahmen sind in der unmittelbaren Vorbereitung und sollen mit einer dritten Novelle des Energiesicherungsgesetzes (EnSiG 3.0) umgesetzt werden, u.a. Maßnahmen zur Höherauslastung der Stromnetze/ Verbesserung der Transportkapazitäten.
Darüber hinaus soll zur Absicherung für den Notfall für den Winter 22/23 das Regime der bestehenden Kraftwerkreserven (Netzreserve, Kapazitätsreserve, besondere netztechnische Betriebsmittel) um eine neue zeitlich und inhaltlich begrenzte AKW-Einsatzreserve aus den beiden südlichen Atomkraftwerken Isar 2 und Neckarwestheim ergänzt werden. Die beiden AKW Isar 2 und Neckarwestheim sollen bis Mitte April 2023 noch zur Verfügung stehen, falls über den Winter ein zusätzlicher Beitrag im Stromnetz in Süddeutschland 2022/23 notwendig wird. Das Reserveregime für die beiden Atomkraftwerke würde Mitte April 2023 enden.
Ziel ist es, dass ein Abruf der Reserve mit ausreichendem Vorlauf erfolgt und dann bei einem Abruf auch durchgehend, bis längstens Mitte April, im Betrieb bleiben. Die Kraftwerke würden also - anders als Netzreservekraftwerke - nicht flexibel an- und abgefahren werden. Für die Entscheidung zum Abruf wird die Bundesnetzagentur ein vorausschauendes Monitoring aufsetzen, das die verschiedenen Indikatoren für die Entwicklung der Gesamtsituation im Winter 2022/23 im Blick behält, damit frühzeitig kritische Entwicklungen erkennbar sind (Kohlevorräte, Kraftwerkverfügbarkeiten, Gasverfügbarkeit, Umsetzung des Maßnahmenpakets etc.). Auf diese Weise soll eine Analyse der stromseitigen Versorgungssicherheit anhand unterschiedlicher Indikatoren ermöglicht werden. Diese würde dann als Grundlage für die Entscheidung über eine mögliche Aktivierung der AKW-Einsatzreserve dienen. Zu überwachen wären u.a. die Parameter, die in den Stresstest-Szenarien kritische Markt- und Netzsituationen nach sich ziehen. Dies würde eine Bewertung der Gesamtsituation und eine frühzeitige Bewertung alternativer Maßnahmen ermöglichen. Bei kritischen oder fragwürdigen Entwicklungen könnte dann unverzüglich und damit mit ausreichend Vorlauf eine vertiefte Analyse mit der Bundesnetzagentur und den Übertragungsnetzbetreibern erfolgen. Nach Vorschlag des BMWK soll die Bundesnetzagentur die Empfehlung für die Aktivierung der Reserve im Fall der Fälle aussprechen; die Entscheidung soll dann über Regierungsverordnung mit Widerspruchsmöglichkeit des Bundestages erfolgen. Grundsätzlich gibt es zwei mögliche Varianten des Reservebetriebs: Entweder wird im Dezember festgestellt, dass ein Abruf der Einsatzreserve nötig ist – dann bleibt eines oder bleiben beide AKW in der Einsatzreserve über den 31. Dezember 2022 hinaus in Betrieb. Oder es stellt sich vor Jahresende noch keine Notwendigkeit der Nutzung der Einsatzreserve dar – dann wird das Kraftwerk zum Jahresende heruntergefahren. Für den Fall, dass sich nach Jahreswechsel die Lage verschärft und ein Abruf notwendig sein sollte, können die AKW mit ausreichend Vorlauf im Laufe des Januars oder Februars 2023 wieder hochgefahren werden, um dann im Streckbetrieb bis längstens Mitte April 2023 Strom zu produzieren. |
Quelle: BMWK