Der Hintergrund

Bei der Planung von Windenergievorhaben ist es häufig erforderlich, sogenannte Zielabweichungsverfahren durchzuführen. Diese sind sehr aufwendig und nicht immer erfolgsversprechend. Diesem Problem widmet sich nun der Gesetzgeber. Einerseits sieht die Novelle des Raumordnungsgesetzes, vom Bundestag am 03.03.2023 beschlossen und am gleichen Tag vom Bundesrat angenommen, Änderungen auf Bundesebene vor.1 Andererseits werden auch auf Landesebene – so z.B. in Sachsen – die Landesplanungsgesetze angepasst.2

Die bundesgesetzliche Änderung ist für Projektierer:innen äußerst praxisrelevant – ein Fall aus der anwaltlichen Praxis zeigt, wie sich die Gesetzesänderungen auswirken und worauf zu achten ist.

Die Gesetzesänderung des § 6 Abs. 2 Raumordnungsgesetz (ROG)

Das Zielabweichungsverfahren ist in § 6 Abs. 2 ROG geregelt. Von der Änderung unberührt bleiben die dafür geltenden zwei Tatbestandsvoraussetzungen: Erstens, dass die Abweichung unter raumordnerischen Gesichtspunkten vertretbar ist. Zweitens, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Die Änderung des § 6 Abs. 2 ROG findet auf Rechtsfolgenebene statt – aus der aktuellen „Kann-Regelung“ wird eine „Soll-Regelung“:

• Nach aktuellem Wortlaut „kann“ bei Vorliegen der obengenannten Voraussetzungen von Zielen der Raumordnung abgewichen werden.
• Nach der ROG-Novelle „soll“ die zuständige Raumordnungsbehörde einem Antrag auf Abweichung von einem Ziel der Raumordnung stattgeben.

Gesetzesänderung betrifft die Rechtsfolgenseite

Mit dieser Gesetzesänderung haben Behörden bei der Frage, ob von den Zielen der Raumordnung im Einzelfall abgewichen werden kann, in Zukunft ein sogenanntes „intendiertes Ermessen“ anzuwenden.

Damit wirkt sich die die Änderung im zweistufigen Prüfverfahren von Tatbestands- und Rechtsfolgenebene erst auf letzterer, der Rechtsfolgenebene aus. Konkret bedeutet das: Erst, wenn die zuständige Raumordnungsbehörde zu der Überzeugung gelangt ist, dass die oben aufgeführten tatbestandlichen Voraussetzungen des Zielabweichungsverfahrens erfüllt sind, ist sie im Regelfall dazu angehalten auf der Rechtsfolgenseite – sofern kein atypischer Fall vorliegt – der Zielabweichung zuzustimmen.

Ein Praxisbeispiel aus Sachsen: Problematisch ist die Tatbestandsebene

Ein Fall aus Sachsen macht deutlich, weshalb es einerseits des Zielabwei-chungsverfahrens als Instrument an sich bedarf und andererseits, warum Betreiber:innen und Projektierer:innen so oft daran scheitern: Gegenstand des Antrags waren fünf bestehende Windenergieanlagen in einem Vorrang- und Eignungsgebiets (VREG), die im Wege des Repowerings durch drei neue Windenergieanlagen ersetzt werden sollten.
Die im Plan vorgesehene Fläche ist jedoch zu klein, um dort die drei neuen (repowerten) Anlagen unterzubringen. Damit die Betreiberin dennoch ihre Anlagen aufstellen kann, stellte sie im Rahmen eines Zielabweichungsverfahrens bei dem regionalen Planungsverband den Antrag, vom Regionalplan abzuweichen, um die bestehenden Anlagen repowern zu können. Der Landesentwicklungsplan Sachsen 2013 beinhaltet für den Ausbau der Windenergie das raumordnerische Ziel 5.1.3 mit folgenden zwei Vorgaben:

  1. Sicherung der Windenergieziele der sächsischen Staatsregierung Durch die Regionalpläne sind die räumlichen Voraussetzungen zum Erreichen des – für die Nutzung der Windenergie geltenden – Zieles der Sächsischen Staatsregierung zu sichern. Dies soll entsprechend dem Flächenanteil der jeweiligen Planungsregion an der Gesamtfläche des Freistaates (regionaler Mindestenergieertrag) erfolgen.
  2. Räumlich abschließende, flächendeckende und konzentrierte Planung Zweitens ist die Nutzung der Windenergie dabei durch eine abschließende, flächendeckende Planung nach dem Prinzip der dezentralen Konzentration in den Regionalplänen durch die Festlegung von VREG zur Nutzung der Windenergie räumlich zu konzentrieren.

Die Raumordnungsbehörde kam mit Verweis auf eben diese raumordnerischen Ziele zu der Auffassung, dass das Zielabweichungsverfahren bereits auf Tatbestandsebene abzulehnen sei. Durch die Beantragung der größeren Fläche und der Errichtung raumbedeutsamer Windenergiean-lagen außerhalb ausgewiesener VREG seien die Grundzüge der Planung nach § 16 SächsLPIG i. V. m. § 6 Abs. 2 ROG berührt.

Die Behörde begründete dies inhaltlich wie folgt: Die Errichtung von Windenergieanlagen in Sachsen stehe und falle mit den dafür eigens eingerichteten VREG als Ausprägung einer räumlich abschließenden flächendeckenden Planung. Der Altbestand von Windenergieanlagen, der seinerzeit noch ohne VREG-Pflicht entstanden war, soll nach Ablauf der Lebensdauer der WEA abgebaut werden, das Gebiet perspektivisch wegfallen.

Damit zeigt der angeführte Praxisfall eindrucksvoll: Die Änderung des § 6 Abs. 2 ROG von einer „kann“- zu einer „soll“-Regelung auf Rechtsfolgenebene wird in vielen Fällen leerlaufen, weil es aufgrund der unveränderten tatbestandlichen Anspruchsvoraussetzungen erst gar nicht zur nachgelagerten Rechtsfolgenprüfung kommt. Deshalb muss konstatiert werden: Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen der Zielabweichung nicht vor, hilft auch eine Erleichterung auf der Rechtsfolgenebene nicht weiter.

Folge: Änderung des ROG ist nicht ausreichend

Im Ergebnis überwinden Zielabweichungsverfahren in der Praxis immer öfter nicht die Tatbestandsebene. Damit ist die Änderung in § 6 Abs. 2 ROG nicht ausreichend, um das Ziel der Ausweitung von Zielabwei-chungsverfahren zu erreichen.

Nur eine „Erleichterung“ des Zielabweichungsverfahrens auf der Tatbe-standsebene kann dies bewirken. Und Sachsen macht vor, wie es geht: Mit dem am 20. Dezember 2022 neueingefügten § 20 Abs. 3 SächsLPlG gibt Sachsen den Raumordnungsbehörden die Möglichkeit, von den Fest-legungen aus dem Landesentwicklungsplan 2013 und den Festlegungen in den Regionalplänen Abweichungen zu zulassen, wenn diese unter raumordnerischen Gesichtspunkten vertretbar sind. Dementsprechend verzichtet der Freistaat auf Tatbestandsebene auf das Merkmal der „Berührung von Grundzügen der Planung.“

Dies würde im oben beschriebenen Beispiel die Chance auf eine Bewilligung erhöhen. Wie auch in der Gesetzesbegründung angeführt, bedeutet der Verzicht lediglich den Wegfall einer „formellen Grenze“ auf Tatbe-standsebene. Dafür wird die Zielabweichung in den Fällen, in denen eine „Berührung von Grundzügen der Planung“ anzunehmen wäre, für eine Ermessensentscheidung geöffnet.3

Gesetzgeber in der Pflicht: Es bedarf weiterer Erleichterungen im Verfahren

All dies zeigt, dass es mit der Änderung des Raumordnungsgesetzes – nur auf Rechtsfolgenebene – allein nicht getan ist. Vielmehr ist der Bundesgesetzgeber in der Verantwortung: Um die angestrebten Ziele des Klimaschutzes, der Versorgungssicherheit und der Durchsetzung der Energiewende zu erreichen, bedarf es der Nachjustierung auch auf Tatbestandsebene. Sachsen hat die Problematik selbst in die Hand genommen, doch eine einheitliche Regelung auf Bundesebene würde konsequent und zielorientiert den Ausbau der Erneuerbaren Energien fördern. In die-sem Zusammenhang zeigt sich wieder, dass Rechtsänderungen oft nicht ausreichend sind, um nachhaltig und vollumfänglich die behördlichen und gerichtlichen Verfahren zu modernisieren und den Anforderungen der Klimabeschlüsse des BVerfG zu entsprechen.

Fußnoten:

1 Deutscher Bundestag, Drucksache 20/4823, Gesetzesentwurf des ROGÄndG, 07.12.2022, (https://dserver.bundestag.de/btd/20/048/2004823.pdf).
2 Sächsischer Landtag, SächsGVBl. S. 705, Haushaltsbegleitgesetz 2023/2024, 20.12.2022.
3 Freistaat Sachsen, Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts- und Finanzausschusses, Drucksache 7/11500 (Drs 7/11500).