Zu den relevanten Gefährdungsszenarien zählen hierbei unter anderem Eisfall, Eiswurf und Bauteilversagen von WEA. Doch obwohl die Anzahl der Gutachten und Gutachter beständig wächst, existieren Stand 2023 für das Vorgehen bei der Risikobewertung keinerlei normative Vorgaben auf nationaler oder internationaler Ebene.

 

Aktivitäten im Bereich Vorschriften und Normen

Eine Orientierungshilfe bei der Risikobewertung stellen die International Recommendations for Ice Fall und Ice throw risk assessments der International Energy Agency (IEA) dar. Sie wurden von acht internationalen Partnern entwickelt, darunter vier Gutachterbüros, zwei Zertifizierungsstellen, ein Windparkbetreiber und ein Hersteller. 2018 das erste Mal erschienen, dokumentieren sie den aktuellen Stand der Technik im Bereich der Modellierung von Eisfall und Eiswurf von WEA sowie das Vorgehen bei der Risikobewertung. Im Herbst 2022 wurde die überarbeitete Edition 1 veröffentlicht, welche die Empfehlungen auf den aktuellsten Stand bringt.

Im November 2023 wurde zudem eine Technical Specification der International Electrotechnical Commission (IEC) IEC TS 61400-31 mit dem Titel Siting Risk Assessment veröffentlicht.

Bei der IEC handelt es sich um eine internationale Normungsorganisation für Normen im Bereich der Elektrotechnik und Elektronik mit Sitz in Genf. Ziel ist eine internationale Kooperation in allen Fragen, die die Erstellung bzw. Festlegung von Standards in den Bereichen Elektrotechnik und Elektronik betreffen.

In Deutschland werden Normen hauptsächlich auf nationaler Ebene durch das Deutsche Institut für Normung (DIN) und die Deutsche Elektrotechnische Kommission (DKE) erarbeitet. Die IEC dagegen ist auf der internationalen Ebene angesiedelt. Wenn allerdings in der IEC ein internationaler Standard verfasst wird, erfolgt zuerst eine Umsetzung als europäische Norm und schließlich automatisch eine Übernahme als DIN-EN in Deutschland. Die internationalen Standards der IEC besitzen demzufolge auch für Deutschland Relevanz.

Bei der IEC TS 61400-31 handelt es sich um eine sogenannte Technical Specification (TS). Sie stellt eine Vorstufe zur Norm dar und besitzt bereits Umfang und Qualität eines Internationalen Standards. Das Ziel besteht darin, das Wissen um die Risikobewertung zu vereinheitlichen und zusammenzufassen. Arbeitsbeginn war Ende 2020, eine Veröffentlichung fand am 15.11.2023 statt. 2026 ist eine Review geplant, bei der überprüft werden soll, wie die TS sich bewährt hat. Weiterhin wird dann darüber entschieden, ob sie in einen Internationalen Standard überführt werden soll.

Inhaltlich befasst sich die TS mit den verschiedenen Gefährdungsszenarien, die von einer Windenergieanlage ausgehen. Hierzu zählen Eisfall, Eiswurf und Bauteilversagen. Dieses umfasst Blattbruch, Turmversagen oder Verlust von Rotor oder Gondel.

Bei ihren Empfehlungen zum Vorgehen bei der Risikobewertung orientiert sich die TS an der ISO 31000. Hierbei handelt es sich um eine Norm, welche sich mit Risikomanagement beschäftigt. Sie liefert einen breiten Ansatz, der nicht sektorspezifisch ist und daher für jede Art Risiken angewendet und angepasst werden kann.

Die TS deckt im Gegensatz zu den International Recommendations der IEA auch das Thema Bauteilversagen mit ab. Die Risiken durch Bauteilversagen und Eisfall/Eiswurf addieren sich zu einem sogenannten Gesamtrisiko, wobei hierbei stets das Größenverhältnis der Risiken beachtet werden sollte. Eisfall/Eiswurf tritt beispielsweise in der Größenordnung von tausend Eisstücken pro Jahr auf – Bauteilversagen einmal in tausend Jahren. Dies führt dazu, dass das Risiko durch Eis für kleinere Straßen und Wege normalerweise maßgeblich ist. Das Risiko durch Bauteilversagen sollte insbesondere bei stark befahrenen Straßen wie Bundesautobahnen und Bundesstraßen berücksichtigt werden, oder auch bei Gebieten mit längerem Aufenthalt vieler Personen, z. B. bei Gewerbegebieten.

Die TS befasst sich vorrangig mit direkten Personenschäden oder Schäden, die zu direkten Personenschäden führen können (Deichbruch, Schaden an einer Pipeline). Es geht stets um potenziell tödliche Schäden, welche sofort auftreten. Spätfolgen, nicht potenziell tödliche Schäden, Sachschäden oder auch Schäden bei Personen, welche sich berufsbedingt im Gefährdungsbereich aufhalten, sind durch die TS nicht abgedeckt.

 

Risiko – was bedeutet das überhaupt und wann ist es tolerierbar?

Risiko definiert sich als Kombination aus Schadenshäufigkeit und Schadenshöhe. Ein Ereignis mit sehr geringem Schaden wird anders wahrgenommen als eines mit hohem Schaden; ein sehr häufiges Ereignis wird anders beurteilt als ein seltenes. Wann ein Risiko tolerierbar ist, hängt stets vom Kontext und den gesellschaftlichen Wertvorstellungen ab. Die Wahrnehmung kann sich dabei von Land zu Land oder im Laufe der Zeit verändern.

Für Personenschäden existiert das Konzept der minimalen endogenen Sterblichkeit (MEM). Die minimale endogene Sterblichkeit in entwickelten Ländern findet sich in der Gruppe der fünf bis fünfzehnjährigen. Sie liegt bei 2 · 10-4 Todesfällen pro Person und Jahr. Eine neue Technologie sollte diese endogene Sterblichkeit nicht nennenswert erhöhen. Es wird daher gefordert, dass die mit einer neuen Technologie verbundene Sterblichkeit nicht mehr als 1 · 10-5 Todesfälle pro Person und Jahr betragen darf.

Bei der Bewertung von Schutzobjekten, bei denen sich eine größere Anzahl von Personen in der Nähe der WEA aufhält, ist zudem das daraus resultierende Kollektivrisiko zu bewerten. Entsprechende Grenzwerte für das Kollektivrisiko werden beispielsweise in den International Recommendations der IEA definiert. Diese liegen für das Kollektivrisiko pauschal zwei Größenordnungen oberhalb des MEM-Kriteriums und somit bei 1 · 10-3 Todesfällen pro Jahr. Für stark befahrene Verkehrswege kann das Kollektivrisiko aber auch standortspezifisch auf Grundlage des bestehenden Risikos festgelegt werden. Hier wird dann ebenfalls gefordert, dass das vorhandene Risiko nicht nennenswert erhöht wird.

Das jeweils für die Bewertung zugrunde zu legende Risiko ergibt sich abhängig von der Aufenthaltshäufigkeit von Personen auf den Straßen bzw. Wegen oder Flächen im Umkreis der WEA.

Das individuelle Risiko wird dabei typischerweise für land- und forstwirtschaftlich genutzte Wege oder Straßen mit geringer Verkehrsdichte berücksichtigt. Für die Bewertung des individuellen Risikos ist das sogenannte kritische Individuum maßgeblich, welches aufgrund seiner Nutzung der Schutzobjekte dem höchsten Risiko ausgesetzt ist. Das individuelle Risiko ist daher nicht von der Gesamtanzahl der Personen abhängig, die die Schutzobjekte frequentieren. Stattdessen wird ein plausibles Nutzungsszenario entworfen. Ein Beispiel hierfür wäre der Hundebesitzer, welcher täglich an der WEA vorbeikommt und somit einem höheren Risiko ausgesetzt ist als beispielsweise ein Spaziergänger, welcher die WEA nur einmal die Woche passiert.

Das kollektive Risiko ist bei jenen Schutzobjekten zu bewerten, bei denen sich eine größere Anzahl Personen in der Nähe der WEA aufhält. Hierzu zählen z. B. Landesstraßen, Bundesstraßen und Autobahnen sowie öffentliche Infrastruktur, die von größeren Personengruppen genutzt wird (Industrieanlagen etc.).

 

Einordnung des Risikos

Bei der Risikobewertung werden vier bzw. fünf Bereiche definiert (siehe Abbildung 1).

Die obere Grenze bildet den roten, inakzeptablen Bereich. Darunter folgt in Orange und Gelb der sogenannte ALARP-Bereich (As Low As Reasonably Practicable bzw. so niedrig wie vernünftigerweise möglich). Liegt das Risiko im oberen orangefarbenen ALARP-Bereich, sollen Maßnahmen in Betracht gezogen werden, um das Risiko weiter zu reduzieren. Die Maßnahmen sollten sich an etablierten Techniken und den am Standort gegebenen Möglichkeiten orientieren.

Im unteren ALARP-Bereich sind Maßnahmen zur Reduzierung des Risikos in der Regel nicht erforderlich. Liegt das Risiko mehr als einen Faktor 100 unterhalb des MEM-Kriteriums und im grünen Bereich, ist es ohne weitere Maßnahmen allgemein akzeptabel. Dieser grüne Bereich erstreckt sich sinnvollerweise ebenfalls über eine Größenordnung, da Risikowerte, die mehr als einen Faktor 1000 unterhalb des hier definierten Grenzwertes für das individuelle Risiko liegen, sich jenseits fast aller bekannten Risiken befinden. Entsprechend kann ein blauer Bereich hinzugefügt werden, in dem das Risiko vernachlässigbar ist.

In Abbildung 2 erfolgt eine Gegenüberstellung der Grenzwerte des individuellen Risikos mit unterschiedlichen Sterberisiken und jeweils deren Einordnung in die unterschiedlichen Bereiche des ALARP-Schemas. Zusätzlich wird in Abbildung 2 auch die jährliche Fahrleistung in Kilometern aufgeführt, bei der man als Kraftfahrer im deutschen Straßenverkehr die jeweiligen Grenzwerte zwischen den Risikobereichen überschreitet. Man erkennt, dass bereits ab einer sehr geringen Fahrleistung von 3000 km pro Jahr der hier definierte inakzeptable Bereich erreicht wird. Die Sterberisiken durch einen Arbeitsunfall oder Hausarbeit liegen bereits deutlich im inakzeptablen Bereich.

 

Ausblick

Für die Risikobewertung einer Windenergieanlage sind viele Parameter von Relevanz: WEA-Typ, Wind- und Vereisungsbedingungen am Standort, Relief, Art der Schutzobjekte und Personenaufenthalt im Umfeld, um nur einige zu nennen. Kern der Risikobewertung bleiben aber die betrachteten Gefährdungsszenarien und die Entscheidung darüber, wann ein Risiko als inakzeptabel und wann als tolerierbar oder akzeptabel einzustufen ist. Mit der IEC TS 61400-31 wird die Grundlage für ein international einheitliches Vorgehen im Bereich der Risikobewertung geschaffen. Als Technical Specification ist sie wegweisend für die zukünftige Methodik in der Risikobewertung.

 

Über die Autorin

Rebecca Bode arbeitet seit drei Jahren beim Ingenieurbüro F2E Fluid & Energy Engineering GmbH & Co. KG mit Sitz in Hamburg. Als Sachverständige im Bereich Windenergie ist sie in der Risikobewertung tätig und verfasst Gutachten über Eisfall, Eiswurf und Bauteilversagen von WEA.

 

Dieser Beitrag erschien im BWE BetreiberBrief 4-2023.

 


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