160 Meter über dem Boden, auf einer Plattform ohne Geländer. Rechts und links freier Fall, dazu pfeifender Wind. Höhenangst? Nicht bei Finja Neumann. Für sie bedeutet die Sicht vom Maschinenhaus vor allem eines: Freiheit.
Neumann arbeitet als Servicetechnikerin für Vestas. Jeden Tag kontrolliert, repariert und wartet sie Windräder. Die meisten Arbeiten verrichtet sie im Maschinenhaus. Auf das Dach der Gondel muss Naumann eigentlich nur, wenn die Befeuerungssysteme repariert werden müssen oder es ein Problem mit der Windfahne gibt. Doch auch für eine kurze Pause steigt sie die Leiter bis zur Dachluke gerne einmal hoch – der Ausblick von hier oben und das Gefühl von Freiheit sind einfach zu verlockend.
Neumann brennt für ihren Job – ebenso wie Hanne May, Nelly Kirsch, Julia Gottschall, Anne Scheibe und Adriana Arendt. Sie alle arbeiten in unterschiedlichen Bereichen der Windbranche. Doch insgesamt sind Frauen in der Erneuerbare-Energien-Branche unterrepräsentiert, waren hier weltweit im Jahr 2019 doppelt so viele Männer beschäftigt wie Frauen. Für Deutschland werden die Zahlen bisher nicht genauer erfasst, bekannt ist nur, wie viele Frauen es in die Geschäftsführung geschafft haben – Stand 2022: 6 Prozent.
Gleichzeitig braucht die Energiewende dringend Personal – einer Studie zufolge fast 440.000 Mitarbeitende bis 2030. Jedes Talent ist also gefragt. Was ist nötig, damit sich mehr Frauen einen Job bei Vestas, Nordex und Co. vorstellen können?
Keine Frage der Muskelkraft
Dass Servicetechnikerinnen lange nicht vorgesehen waren, verdeutlicht Neumann an sehr konkreten Beispielen: Bis vor zwei Jahren hat ihr Unternehmen Funktionskleidung nur in Männergrößen ausgeteilt. Getrennte Umkleiden oder eigene Duschen – Fehlanzeige. Dass es auch anders sein kann, hat die Servicetechnikerin in Norwegen und Finnland erlebt, wo sie als Teil eines Entsendungsteams ebenfalls arbeitet. „In den norwegischen und finnischen Firmen ist der Frauenanteil viel höher“, erzählt Neumann, „aber dort gibt es eben auch extra Duschen und Umkleidekabinen. Ich war hier sogar einmal in einer extra Frauensauna.“
Fehlende Muskelkraft ist jedenfalls kein Argument. Adriana Arendt hat 2015, drei Jahre nach Neumann, bei Vestas mit ihrer Ausbildung zur Mechatronikerin begonnen. Mit 1,60 Metern ist Arendt weder so groß noch so kräftig wie viele ihrer männlichen Kollegen. Für schwere Bauteile oder Schrauben mit hohem Drehmoment greift sie deshalb zur Technik. „Es gibt für alles Hilfsmittel: lange Schlüssel mit extra Hebel, Kettenzüge oder den Kran“, erklärt Arendt. Inzwischen gebe es auch ein Umdenken bei vielen männlichen Kollegen. Sie würden darauf achten, ihre Körper nicht zu überbeanspruchen und schwere Bauteile nur dann zu tragen, wenn es nicht anders gehe. Man könnte also sagen: Auch Bandscheiben profitieren von mehr Diversität.
Es braucht weibliche Vorbilder
„Ich wäre nie von selbst auf die Idee gekommen, beruflich auf Windanlagen herumzuklettern“, erzählt Arendt. Dass sie sich trotzdem bei Vestas beworben hat, hängt mit einer Reihe von Zufällen zusammen. Zum Beispiel war auf ihrem Berufsgymnasium der soziale Zweig schon voll belegt und nur im technischen gab es noch Plätze. Und dann war da die Nachbarin, deren Vater bei Vestas Servicetechniker war und sie zur Bewerbung ermutigte. Heute ist Arendt glücklich über ihre Entscheidung. „Ich liebe die Extreme“, erzählt sie begeistert. Sie will jetzt in den Offshore-Bereich von Vestas wechseln. „Das war immer mein Traum.“ Arendts Tipp für Unternehmen? Mehr Werbung und eine gezielte Ansprache von Frauen – weil die sonst gar nicht auf den Gedanken kommen, dass der Beruf auch für sie passen könnte.
Fehlende Vorbilder waren auch für Nelly Kirsch ein Grund, sich gegen Maschinenbau als Studium zu entscheiden – auch wenn sie sich heute sicher ist, dass sie das gut hinbekommen hätte. Kirsch hat in Darmstadt Energiewirtschaft studiert und ist inzwischen Projektleiterin bei Lanthan Safe Sky in Freiburg. Sie ist für die Installation jener Befeuerungssysteme verantwortlich, um deren Wartung sich Arendt und Neumann kümmern. „Ich wünsche mir, dass sich viel mehr Frauen trauen, auch technische Studiengänge zu belegen. Nur dann wird sich etwas ändern“, sagt Kirsch. Für sie selbst ist bei der Suche nach einem Job der Anteil von Frauen in der Firma ein wesentliches Kriterium. Denn, so ihre Erfahrung, wo es weibliche Führungskräfte gebe, seien meist auch die Arbeitsbedingungen besser – und die Firma erfolgreicher.
„Sichtbarkeit ist der entscheidende Faktor“
Dass es noch ein weiter Weg ist, bis Frauen in der Windbranche eine größere Rolle spielen werden, weiß Hanne May nur zu gut. Die Leiterin der Kommunikationsabteilung der Deutschen Energie-Agentur ist eine der Mitbegründerinnen des Netzwerks women of wind energy. 2020 hat es sich für andere Erneuerbare Energien geöffnet und heißt seitdem women of new energies (siehe unten). May war kürzlich zum Energiegipfel des Handelsblatts eingeladen, einer der wichtigsten Veranstaltungen der Energiebranche. „Das waren zu 90 Prozent Männer im fortgeschrittenen Alter.“ Dabei sollten progressive Geschlechterrollen aus ihrer Sicht eigentlich zur DNA der Branche gehören: „Wer für energiepolitischen Fortschritt steht, sollte auch für Parität sein.“ Der Weg dahin ist aus ihrer Sicht klar: „Sichtbarkeit ist der entscheidende Faktor.“ Es sei deshalb wichtig, die bereits bestehende Diversität in der Windbranche auch nach außen hin zu kommunizieren.
Das könne für die betroffenen Frauen allerdings anstrengend sein, erklärt Julia Gottschall, Chief Scientist beim Fraunhofer-Institut für Windenergiesysteme in Bremerhaven. In ihrem Umfeld werde verstärkt darauf geachtet, dass bei öffentlichen Veranstaltungen immer mindestens eine Frau auf der Bühne stehe. „Das ist gut, weil es die Sichtbarkeit von Frauen in dem Bereich stärkt“, findet Gottschall. „Dadurch bekomme ich aber auch sehr viele Anfragen für Veranstaltungen auf den Tisch – manchmal sind es auch zu viele.“
Vereinbarkeit von Beruf und Familie
Work-Life-Balance, also die Vereinbarkeit von Beruf und Leben, ist in aller Munde. Eine zentrale Herausforderung für Unter-nehmen und Arbeitnehmer*innen gleichermaßen. „Jede und jeder hat andere Bedürfnisse und der Alltag besteht nun mal aus Beruf und Privatleben. In einem Team sollte allen die Möglichkeit gegeben werden, diese beiden Komponenten zu vereinbaren“, stellt Anne Scheibe fest, die sich früher als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Potsdam-Institut für Klimaforschung mit Hochwasserereignissen in Küstenregionen beschäftigte. „Bei meiner alten Arbeitsstelle waren die Organisationsstrukturen dahingehend nicht optimal aufgebaut.“ Heute ist sie als Teamleiterin bei dem Projektierer Notus Energy in Potsdam beschäftigt und legt hohen Wert darauf, dass sie sowohl beruflich erfolgreich ist, als auch ihrer Familie gerecht werde.
„Der enge Kontakt und Austausch mit den Kolleg*innen macht einen großen Teil des Teamerfolgs aus. Es ist durchaus möglich, Arbeitszeiten, berufliche und private Termine so flexibel zu gestalten, dass die Balance zwischen beiden Welten stimmt. Ganz unabhängig vom Geschlecht der Arbeitenden.“ Die Unternehmenskultur bei Notus sei viel lebensnaher. „Ich kann jede und jeden nur ermutigen, das Leben selbst in die Hand zu nehmen“, so die Geographin. Verschiedene Lebensentwürfe hätten in dem Unternehmen ihren Platz. Das zeige sich an einfachen Dingen, wie zum Beispiel einer fairen und priorisierten Verteilung von Urlaubszeiten in den Schulferien und dem respektvollen kollegialen Umgang untereinander, der durch die Unternehmensorganisation gefördert werde.
„Das Thema Kinderbetreuung ist ganz wichtig“, sagt auch Hanne May. Viele der Windparkbetreiber hätten ihren Firmensitz auf dem Land. Die Betreuungssituation für Kinder sei dort oft weniger gut ausgebaut. Das mache es für Eltern schwerer, Beruf und Familie zu vereinbaren. May plädiert deshalb für flexible Arbeitszeitmodelle. Sie betont aber auch, dass diese nicht nur formal möglich, sondern auch gelebt werden müssen. Es bringe niemandem etwas, wenn Homeoffice und flexible Arbeitszeiten möglich seien, aber alle unterschwellig signalisieren, dass sie das für eine Ausrede zum Faulenzen halten.
Für Finja Neumann, die Frau, die so gerne oben auf den Windrädern sitzt, war der Weg bis in die Erneuerbaren-Branche lang und kompliziert. Obwohl sie schon als Kind mit Vorliebe Videorekorder und Plattenspieler repariert hat, hat es mit dem Wunschausbildungsplatz zur Mechatronikerin nicht sofort geklappt. Bis sie bei ihrer Traumfirma Vestas einen Job bekommen hat, sind Jahre vergangen. Damals hat sie Pionierarbeit geleistet, heute arbeitet eine ganze Reihe von Servicetechniker innen im Unternehmen. Neumann ist sich deshalb sicher: „Wir sind auf dem richtigen Weg.“
Info: Women of new energies
Im Verein Women of new energies vernetzen sich seit 2011 Frauen der Erneuerbare-Energien-Branche, um sich gegenseitig bei der persönlichen und beruflichen Weiterentwicklung zu unterstützen. Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit ist ein Mentoringprogramm, in dem Berufseinsteigerinnen oder Studentinnen mit einem Mentor/einer Mentorin zusammengebracht werden. Mehr Infos unter https://womenofnewenergies.wildapricot.org/