Noch vor einigen Jahren war es gängige Praxis, bei der Auslegung von Windenergieanlagen große Sicherheitsreserven einzuplanen, um ein möglichst breit einsetzbares Produkt zu erhalten. Viele Anlagen wurden nach Windklasse 2 der internationalen Norm IEC 61400-1 designt. Heute ist dieses Vorgehen durch den hohen Kostendruck bei neuen Projekten nicht mehr wirtschaftlich. Denn das Windjahresmittel von 8,5 m/s, das der Windklasse 2 zugrunde liegt, wird an kaum einem neu beplanten Standort in Deutschland erreicht.

Individuelle Lastberechnung

Mittlerweile werden neue Anlagentypen zunehmend für niedrigere Windbedingungen designt. Diese individuelle und bedarfsgerechte Auslegung reduziert die Baukosten und macht die Windenergie im Vergleich zu anderen Erzeugungsarten konkurrenzfähig. Zunehmend größere Anlagentypen und geringere Abstände der Anlagen untereinander führen aber immer wieder dazu, dass neue Anlagen sektorweise abgeschaltet werden müssen, weil die Windlasten oder Turbulenzen für benachbarte Anlagen zu hoch werden. Um zu beurteilen, ob eine Überschreitung der Auslegungsbedingungen problematisch ist, simulieren unabhängige Expertinnen und Experten die tatsächliche Last mithilfe aeroelastischer Modelle. Diese prognostizieren die Wechselwirkungen zwischen aerodynamischen Kräften (aus dem Wind) und den elastischen bzw. strukturellen Eigenschaften einer Anlage. Das gibt Aufschluss über die tatsächlichen Belastungen und Verformungen unter den späteren Betriebsbedingungen.

Dafür ist viel Detailwissen über die Anlagen erforderlich, weshalb typischerweise die Hersteller diese Aufgabe übernehmen. Wenn die Bedingungen am Standort einen oder mehrere Auslegungsparameter überschreiten, was mittlerweile in einem beträchtlichen Teil aller Fälle vorkommt, muss eine Berechnung zeigen, ob die Überschreitung durch eine Unterschreitung an anderer Stelle kompensiert werden kann. Damit steigt das Anfrageaufkommen nach individuellen Bewertungen, und die Projektierer müssen teils monatelange Reaktionszeiten in Kauf nehmen. Ein herstellerunabhängiges Verfahren zur Lastbewertung kompensiert dies, indem es ein automatisch generiertes Ersatzmodell erstellt. Die Ergebnisse sind mit den Originalmodellen der Hersteller vergleichbar und haben deshalb für die Standorteignung dieselbe Aussagekraft wie ein Gutachten der Hersteller. Neue Methoden beschleunigen den Ablauf erheblich und liefern bereits nach zwei bis drei Wochen verlässliche Ergebnisse.

Unabhängig und präzise

Herstellerunabhängige Methoden verbessern die bisher zum Einsatz kommenden generischen Modelle zur Lastberechnung. Um bei der herstellerunabhängigen Bewertung stets konservativ zu sein, ist die Verwendung von zusätzlichen Sicherheiten erforderlich. Die besondere Herausforderung besteht darin, diesen Sicherheitsaufschlag möglichst genau bedarfsgerecht zu kalkulieren.

Eine neue Methodik beinhaltet etwa eine stufenlose Modellskalierung. Das bedeutet, es bildet jede Anlagengröße und jeden Typ ab. Der Zeitvorteil des herstellerunabhängigen Modells wird noch deutlicher, wenn Anlagen mehrerer Hersteller in der engeren Auswahl sind und in einer frühen Projektphase die Eignung der in Frage kommenden Typen untersucht werden soll.

Für die meisten Projektierungen liefert das Berechnungsverfahren aussagekräftige Ergebnisse. Bei komplizierten Fällen kann ergänzend eine Bewertung des Herstellers erforderlich sein. Auch wenn eine Lastsimulation ergibt, dass die Ermüdungslasten am Standort die Auslegungslasten überschreiten, kann die Standorteignung in manchen Fällen durch einen Restsicherheitsnachweis für einzelne betroffene Komponenten nachgewiesen werden.

Schnell und flexibel

Individuelle Lastberechnungen setzen Expertinnen und Experten nicht nur für neue Windparks ein, sondern auch, um den Einfluss geplanter Anlagen auf bestehende zu bewerten. Wenn Windparks erweitert werden, liefern die Ergebnisse auch dann Klarheit über den Einfluss auf Lasten und die Standsicherheit.

Besonders interessant ist das herstellerunabhängige Verfahren, wenn beispielsweise neue Anlagen von einem anderen Anbieter vorgesehen sind als die bereits bestehenden vor Ort. Die Windlastberechnung nehmen Hersteller nur für ihre eigenen Anlagen vor. Hier helfen unabhängige Expertinnen und Experten.

Mit dem neuen Verfahren ist selbst die Beurteilung modernster Anlagen möglich. Die größte Neuerung ist aber: Die Projektentwickler müssen nicht mehr zwischen Validität und Reaktionsgeschwindigkeit entscheiden. Die neue Methode bietet zugleich zuverlässige und präzise Simulationsergebnisse bei einer schnellen Bearbeitungszeit.

Auslegungssache: Standorteignung und Typenprüfung

Das Standorteignungsgutachten zeigt, ob ein bestimmter Windkraftanlagentyp für die Bedingungen am geplanten Standort geeignet ist. Die Ertragsdaten bereits bestehender Anlagen können dabei helfen, die herrschenden Windbedingungen zu ermitteln. Wesentlich sind die Turbulenzintensität und die Verteilung der Windgeschwindigkeiten.

Die Typenprüfung der Anlage beinhaltet ein Jahreswindmittel und eine Turbulenzkategorie. Der erste Schritt besteht in einem Abgleich der Standortbedingungen mit dem Design der Anlage. Ob diese Rechnung aufgeht oder nicht, lässt sich mit einer individuellen Lastsimulation beantworten.

 

Über den Autor

Christian Schumacher ist Experte für Last- und Standortanalysen bei der TÜV SÜD Industrie Service GmbH.

Dieser Beitrag erschien im BWE-BetreiberBrief 3-2024.


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